www.uwe-berger.net

Lyriker    Erzähler    Essayist

 

PROBEN

 

Fleming unterwegs

Aus: Das Verhängnis oder Die Liebe des Paul Fleming

Das Schiff schwamm auf dem Kaspischen Meer, nachdem es sich von den Schilfinseln des Deltas gelöst und aus der verschlammten Uferzone befreit hatte. Fleming stand am Heck und suchte den Dunststreifen im Norden, in dem sich die Küste verbarg. Wie klein war der einzelne Mensch in der Welt. Ein Sandkorn in der Unendlichkeit der Landschaft, ein Gesicht im Getümmel der Menschen – so blieb dort seine Katja zurück. Er hatte den Duft ihres Haares gerochen, das Salz ihrer Haut geschmeckt, den fröhlichen und traurigen Worten gelauscht, die von ihren Lippen kamen, und in ihren Augen das Ungesagte gelesen. Noch immer schwebten sie vor ihm, die Augen, verdunkelt zum Schwarzgrün dieses Meeres und von Tränen feucht. 

Belogen hatte er sie, als er behauptete, es sei möglich, sein Herz nicht ganz und gar an einen Menschen zu hängen, der einem so zugetan war wie sie ihm und er ihr. Nichts hatten sie ausgekostet, nichts war genug, und nicht Mut zur Liebe, sondern Schmerz war ihnen geblieben. Dieser Schmerz büßte von seiner Schärfe dadurch nichts ein, daß er ihn schon beim Abschied von anderen verspürt hatte, daß er sich wiederholte. Im Gegenteil. Es wurde schlimmer und schlimmer. 

Was verlor er. Was hatte er ihr angetan. 

Fleming wußte, daß Katja nicht die Roxolane war, als die er sie sah – und doch war sie es, wenn auch auf andere, auf ihre, nicht auf seine Weise. Ihre Träume waren andere als die seinen. Was ihn an ihr bezaubert hatte, ihre Andersartigkeit, ihre Herkunft aus anderen Räumen und Zeiten, aus den Steppen des Ostens und den Verwicklungen ihrer Völker, würde ihn sicher auch bald entzaubert haben und ihm als Fremdheit entgegengetreten sein. Ach, und ihre herbe Vertrautheit, die um so mehr leistete, als der Graben breit war, der sie trennte... Fremd und vertraut, waren das nicht die beiden Pole der Liebe? 

Die Sonne brach aus den Wolken und warf ihr gleißendes Licht auf die unruhige Wasserfläche, die ihre Farbe veränderte, die blau wurde und zu glitzern begann. Fleming starrte auf den Seehund, der sich im Fahrwasser des segelnden Schiffes tummelte, und auf die schwebenden Vögel. Er bedeckte die Augen mit den Händen.

1983

 

« Vorherige Probe

Nächste Probe »

BIOGRAFIE
Vita
Reisen
Sonstiges
Illustrationen
Vertonungen

BIBLIOGRAFIE
Lyrik und Prosa
Essays und Rezensionen (Ausw.)
Herausgegebene Bücher
Reden (Ausw.)
Nachdichtungen (Ausw.)
Verstreutes
Resonanzen (Ausw.)
Über den Autor (Ausw.)

PROBEN
Baum!
Transport damals

Die Berge Asiens
Dazan

Von einem Fenster
Meer und Felsen

Durch mich
Der Dünkel

Noch
Was war ist

Die Erde umarmen
Blau grau grün

Katarzyna
Nachtfahrt
Lebensgrund
Lächeln
Bunter Erdteil Afrika
Lied und Welt
Steppenleben
Fleming unterwegs
Bündnisse
Kunst will leben helfen
Fensterscheiben
Nacht in Paris
Beten und Tun
Am Teide
Aus Briefen
Liebeslied

NEUERSCHEINUNGEN
Atem, 2003
Räume, 2004
Pfade hinaus, 2005
Wegworte, 2006
Kater-Vater, 2006
Du wirst sein, 2010
Vom Sinn, 2011/2012

NEUAUFLAGE
Den Granatapfel ehren, 2007

E-BOOKS
Backsteintor und Spreewaldkahn, 2013
Nebelmeer und Wermutsteppe, 2013
Der Schamanenstein. Menschen und Orte, 2013
Das Verhängnis oder die Liebe des Paul Fleming, 2012
Die Neigung, 2013
Flammen oder Das Wort der Frau, 2013
Weg in den Herbst, 2013
Pfade hinaus, 2013
Suche nach mehr, 2013
Ungesagtem lauschen. Tagebuch 2000 bis 2012, 2013
Das Gespräch der Delfine und anderer Tiere, 2015
Ein Schiff fährt über Land, 2015

Homepage

 

 

IMPRESSUM 

Poems and prose, graphics and pictures 
copyright © Uwe Berger, 2016