PROBEN Fensterscheiben
Aus: Flammen oder Das Wort der Frau, Erzählung
Mit einem Hammer schlug Gertrud Glasreste aus einem Fensterrahmen, der in der Küche auf dem Boden lag. Verletz dich nicht, dachte sie, nur ein Tolpatsch verletzt sich bei so einer Arbeit. Nachdem sie die Scherben zusammengefegt und weggetragen hatte, maß sie mit einem Zollstock Höhe und Breite des Fensterflügels. Dann zog sie mit Hilfe einer Latte maßgerechte Striche auf einen zerlegten Pappkarton, schnitt sich passende Stücke zurecht und nagelte sie sorgfältig auf den Rahmen.
Während sie das Ganze mit einem sachkundigen Griff wieder einhängte, kam eine Untermieterin herein. Es war jene Frau, die nach der Deportation des Vaters zu ihr gekommen war. „Nun haben wir kein Tageslicht mehr“, klagte sie.
„Wir müssen die Fenster eben öffnen, bevor die Bomben fallen“, antwortete Gertrud trocken. – „Ich weiß nicht, ob ich´s Ihnen zeigen darf …“ – „Was denn?“ – „Hier! Das lag in meinem Hausflur.“ Sie griff in ihre Schürzentasche und holte einen Zettel hervor. Mit großen Lettern, die offenbar aus einem Setzspiel für Kinder stammten, war darauf gedruckt: STALINGRAD HITLERS ERSTER K.O. Die Frau sah Gertrud furchtsam an. – „Am besten, Sie verbrennen´s.“ – „Ja. Aber was ist das nun mit Stalingrad? Ich habe Angst, der rächt sich.“ – „Wer rächt sich? An wem?“ – „Der Hitler. An uns.“
Die Augen der Frau flackerten. Die schwarzen, mit grauen Fäden durchzogenen Haare standen ihr wirr um den Kopf. Sie galt als ein wenig beschränkt, und Gertrud graute es vor dem Zimmer, in dem sie wohnte, dem Zimmer mit den Bibelsprüchen und den Papierblumen. Doch nun war sie schockiert und dachte: Am Ende trifft sie´s; in ihrer Primitivität durchschaut sie die elende Niedrigkeit der Nazis.
„Vertrauen Sie“, sagte Gertrud und war sich der Vieldeutigkeit ihres Rates bewusst. War Stalingrad wirklich, wie Dora gesagt hatte, der Anfang von Hitlers Ende, blieb die Frage, wie rasch es kam, dieses Ende, und ob es eher kam als das Ende der Verfolgten. „Vertrauen Sie auf die Zeit“, fügte sie hinzu, einem dankbaren Lächeln begegnend.
Und glaubte selbst nicht daran, dass der Wettlauf mit der Zeit zu gewinnen sei.
1990
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